Mit neuen Datenschätzen gegen die Blackbox im Fernwärmenetz

2022-10-22 19:45:42 By : Mr. Paul Rain

Digitale Fernauslesbarkeit, monatliche Verbrauchsinformation oder jährliche Abrechnung: Das sind die Anforderungen der neuen Fernwärme- oder Fernkälte-Verbrauchserfassungs- und -Abrechnungsverordnung (FFVAV). Um die gesetzlichen Vorgaben umzusetzen, gilt es fernablesbare Messtechniken einzusetzen. Sie bilden die Basis für ein feingranulares Netzmonitoring und Analysen in Echtzeit mithilfe Künstlicher Intelligenz.

FFVAV: Ähnlich komplex wie der Name dieser neuen Verordnung scheint vielen Energieversorgungsunternehmen (EVU) auch die Umsetzung derselben. Das liegt vor allem daran, dass nicht wenige Versorger von den neuen Tatsachen überrascht wurden. Zwar war die Umsetzung der Energieeffizienz-Richtline (EED) in deutsches Recht Anfang des Jahres 2021 schon einmal akut gewesen, doch als die Entscheidung darüber bis nach der Sommerpause vertragt wurde, geriet das Thema in Vergessenheit.

Der Beschluss Anfang Oktober 2021 traf somit viele EVU, wenn auch nicht vollkommen unerwartet, so doch plötzlich. Dass Teile der Verordnung bereits zum 1. Januar 2022 umgesetzt werden mussten, obwohl bezüglich der geeigneten Messtechnik die technische Richtlinie des Bundesamtes für Sicherheit (BSI) fehlte, verunsicherte die Branche zusätzlich. Kein Wunder also, dass die Chancen, die die FFVAV bietet, zunächst in den Hintergrund rückten. Mittlerweile entstehen jedoch erste Leuchtturmprojekte, die die Mehrwerte aufzeigen.

Voraussetzung dafür, am Ende weitergehende Vorteile der Neuerungen nutzen zu können, ist die schnelle Umsetzung der Pflicht. Doch was fordert die FFVAV eigentlich genau? Im Wesentlichen sind hier drei Aspekte zu nennen. Die erste Anforderung betrifft die genutzte Messtechnik. Bis 2026 müssen alle Wärmemengenzähler (WMZ) in Deutschland fernauslesbar sein. Bisher wurde die Ablesung zumeist analog bei den Kundinnen und Kunden vor Ort durchgeführt. Dies fällt nun weg.

Die zweite Herausforderung durch die FFVAV ist die Standardisierung der ermittelten Daten. Denn seit dem 1. Januar 2022 ist eine jährliche Abrechnung für Kundinnen und Kunden Pflicht. Dafür reicht jedoch nicht die Fernauslese der WMZ aus, sondern die entsprechenden Werte müssen aufbereitet werden, um im Abrechnungssystem nutzbar zu sein. Ebenfalls bereits heute Pflicht ist der dritte Aspekt, eine monatliche Verbrauchsinformation. Sie muss kostenlos erstellt und auf Wunsch der Kundinnen und Kunden elektronisch bereitgestellt werden.

Insbesondere die Umrüstung der WMZ sorgt vielerorts für Kopfzerbrechen. Der Grund: Aktuell gilt es als wahrscheinlich, dass die Anbindung der WMZ an Smart Meter Gateways (SMGW) zur Pflicht wird. Damit stünde zukünftig eine einheitliche Lösung für die Energiewirtschaft in Deutschland zur Verfügung. Da jedoch die technische Richtlinie des BSI fehlt, suchen EVU nach Alternativen. Eine Möglichkeit sind Lösungen, die die Fernauslesung über ein bestehendes LoRaWAN-Netz oder „NarrowBand Internet of things“ (NB-IoT) realisieren. Von Vorteil ist dabei, dass eine vorhandene Infrastruktur genutzt wird, die nicht erst auf- und später wieder abgebaut werden muss. Zudem stehen Lösungen wie die „IoT-ERP-Bridge“ (ERP = Enterprise Resource Planning) der items GmbH & Co. KG bereit, die Daten in ERP-Sprache übersetzen und so für das Abrechnungssystem bereitstellen.

Trotz der vielleicht anstehenden Pflicht zur Anbindung an das Smart Meter Gateway, liefert die Übertragung über LoRaWAN und NB-IoT einen weiteren entscheidenden Vorteil: Eine feingranulare Datenübertragung. Somit entsteht unabhängig von der möglichen SMGW-Pflicht das Potenzial für ökologische und ökonomische Einsparungen.

Ganz gleich für welche Lösung sich EVU in der aktuellen Situation entscheiden, was durch die Umrüstung der Messgeräte entsteht, ist eine neue Dimension der Datenmenge. Diese nutzbar zu machen, übersteigt die Erfüllung der regulatorischen Anforderungen im Rahmen der FFVAV. Denn über monatliche Ablesungen hinaus ist auch ein feingranulares Monitoring möglich. So können Werte auch täglich, stündlich oder noch häufiger abgerufen werden.

Mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz kann die Fahrweise von Kraftwerken deutlich optimiert werden. Grafik items

Die Vorteile eines engmaschigen Monitorings liegen auf der Hand. Aktuell erstellte Prognosen, die für die Tagesplanung des Betriebs eines Kraftwerks unerlässlich sind, basieren bisher nicht etwa auf dem aktuellen Verbrauch, sondern auf Schätzungen mittels temperaturbasierten Lastkennlinien. Den tatsächlichen aktuellen Verbrauch zu bestimmen ist noch nicht möglich, da bisher nur vereinzelte Übergabestationen und Stränge überwacht werden.

Somit sind keine Lastspitzen durch eine effiziente Fahrweise vermeidbar, da es keinerlei Daten gibt, die das Verhalten des Verbrauchers betreffen. Anders ausgedrückt: Die EVU arbeiten mit einer Blackbox, die sie zum Großteil anhand von Vor- und Rücklauftemperaturen steuern, anstatt eine breitere Datenbasis zu nutzen. Mit den neuen Messtechnologien lässt sich dies nun ändern.

Schon bei stündlichen Übertragungsintervallen verfügen EVU zukünftig über einen Datenschatz, der bei richtiger Analyse eine deutliche Verbesserung der vorhandenen Kapazitäten ermöglicht. Mitunter wird es möglich die Verzögerungen bei der Wärmeübertragung im Netz in die Produktionsplanung mit einzubeziehen und Lastspitzen durch eine vorausschauende Netzfahrweise zu vermeiden.

Gleichzeitig sichert eine Überwachung der Vor- und Rücklauftemperaturen in Echtzeit die Einhaltung vertraglicher und gesetzlicher Rahmenbedingungen. Störungen und Verletzungen dieser Bedingungen können schnell und proaktiv gefunden werden.

Somit ist erstmals ein genauer Überblick über den Betriebszustand des eigenen Netzes gegeben. Entgegen einer Lösung auf Basis des SMGWs, deren Beschränkung bei einer 15-minütigen Auflösung und einer nur täglichen Datenübertragung erreicht ist, ist mit LoRaWAN sogar eine Echtzeitüberwachung möglich. Damit werden nicht nur Lecks sichtbar, sondern Lastspitzen treten ebenso deutlich zu Tage wie Wärmeverluste im Verteilnetz.

Doch wie sind all diese Vorteile tatsächlich zu erreichen? Durch sogenanntes „Reinforcement Learning“ – einer speziellen Form des Maschinellen Lernens – werden die Daten der WMZ mit den Erzeugungsdaten in Korrelation gesetzt. Hierbei suchen Agenten auf Basis von Künstlicher Intelligenz nach der optimalen Lösung. Für gut funktionierende Entscheidungen erhalten sie Belohnungen über die vorher definierte Belohnungsfunktion, für weniger gute Entscheidungen Strafen, ähnlich einer Konditionierung. Diese Optimierung liefert durch die erhobenen Daten eine evidenzbasierte und empirisch gesicherte Strategieentwicklung, die den Menschen durch rein objektive Sichtweisen unterstützt.

Das Reinforcement Learning ermöglicht große Vorteile in den Bereichen Planungssicherheit, Effizienz und Kosteneinsparung. Grafik: items

Die vorgeschlagenen Modelle erzeugen eine optimale Strategie (Globales Optimum) für die Fahrweise aller Kraftwerke. Damit werden die Produktionskosten deutlich gesenkt, da weitaus weniger Zukäufe von Ausgleichsenergie nötig sind. In ersten Leuchtturmprojekten der items zeigt sich eine Einsparung von bis zu 300 000 €/a. Zudem kann durch die Analyse der neu gewonnenen Daten der Energieeinsatz insgesamt um bis zu 10 % gesenkt werden, was zu mehr Nachhaltigkeit führt.

Ohne Frage bedeutet die Umsetzung der FFVAV für zahlreiche Versorger eine echte Herausforderung. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von dem engen zeitlichen Rahmen über fehlende technische Richtlinien bis hin zu der komplexen Entscheidung über die geeignete Messtechnik.

Doch die neuen gesetzlichen Regelungen sind nicht allein eine Belastung für EVU, auf deren Kosten die Erreichung der Klimaziele vorangetrieben wird. Im Gegenteil: Es ergeben sich ökologische und ökonomische Mehrwerte, die es zu heben gilt. Mit den neuen Datensätzen und dem Reinforcement Learning lassen sich effektive Vorteile in Form von Planungssicherheit, Effizienzsteigerung und deutlichen Kosteneinsparung erzielen.

Andreas Müller, Vertriebsleiter bei der items GmbH & Co. KG

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